Eine Bildbesprechung
von Bruno Rub

Der Jazz meines Vaters
Kürzlich fragte mich ein befreundeter Jazzkenner, ob ich eigentlich aus einer musikalischen Familie stammen würde. Ich kramte dann eine alte Foto aus meiner Schachtel mit Familienbildern hervor und präsentierte ihm die Aufnahme der „Jazz-Kappelle Sevilla“. Den Orthopraphiefehler auf der Basstrommel wollen wir gnädigst übersehen. Uns interessiert hier das Musikalische. Wir sehen rechts aussen am Akkordeon meinen Vater. Links von ihm steht Onkel Josef, ein Bruder meiner Mutter, mit seinem Saxofon.
Die „Jazz-Kap(p)elle Sevilla“ war in den Dreissiger- und Vierzigerjahren das meistbeschäftigte Tanzorchester im Bezirk Zurzach. Mit welch primitiven Voraussetzungen meine Vorfahren ihre Musik produzierten, lässt sich am besten am Saxofon exemplifizieren. Als die Gruppe erstmals probte, erschrak sie. Das Saxofon und das Akkordeon passten überhaupt nicht zusammen. Man spielte aus den Akkordeonnoten in C. Das Tenorsaxofon aber ist ein B-Instrument. Was tun? - Von der „Hohen Kunst des Transponierens“ hatten meine Verwandten keine Ahnung. Des Rätsels Lösung fand mein Onkel darin, dass er nach langen Recherchen ein C-Melody-Sax anschaffte, ein zuerst im Chicago-Jazz verwendetes Instrument, für das vor allem der Name Frank Trumbauer steht. Sein wunderbares Solo auf dem Bix-Beiderbecke-Klassiker „Singing The Blues“ von 1927 gilt heute als frühes Rollenmodell für die grossen coolen Musiker à la Lester Young, Lee Konitz, Paul Desmond, aber auch für Trompeter wie Miles Davis oder Chet Baker.
Doch von diesen Namen hatte mein Vater ein Leben lang nichts vernommen. Als ich ihn als kleines Kind einmal fragte, was denn das Wort Jazz im Gruppennamen bedeute, zeigte er auf das Drumset und meinte: „Dieses Instrument heisst Jazz“ (er sprach das Wort wie „Jatz“ aus). Gibt es in der Kapelle ein Jazz, dann ist das eine Jazz-Kapelle. Gibt es kein Jazz, dann handelt es sich um eine Ländlerkapelle.“ Ich will meinen Vater nicht posthum desavouieren, denn das war die landläufige Definition für Jazzmusik, die sogar Radio Beromünster übernahm.
Woraus das Repertoire der Jazzkapelle Sevilla bestand, fand ich ein paar Jahre später heraus, als ich im Estrich eine Sammlung von Noten für eben diese Kapelle entdeckte. Ein paar Titel seien herausgegriffen: „Was machst du mit dem Knie, lieber Franz?“, „Wo hast du nur die schönen blauen Augen her?“ oder „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt“. Ich kann den Enthusiasmus meiner Vorfahren nachvollziehen, wenn sie etwa am Schmutzigen Donnerstag diese Musik im vollen Sonnensaal in Leuggern und für zahlreiche tanzende Paare intonierten.
PS. Beim Instrument auf unserem Bild handelt es sich übrigens um ein Tenorsaxofon, zu dem Onkel Josef zurückfand, nachdem er selbst die „Hohe Kunst des Transponierens“ erlernt hatte. Ich erinnere mich aber an ein Foto, das in unserer Familie zirkulierte, auf dem er alleine mit einem C-Melody-Sax posierte.